Ich mag diese tapferen, gelblichen, von einer fahlen Sonne aufgewärmten Strahlen (die einen bereits eingetretenen Winter hinter sich und noch viele graukalte Januartage vor sich haben) zum Jahresende.
Auf einer Südengland-Reise besuchten wir Margate und das dortige Turner Contemporary - ein Museum, wie ich es mir wünsche.
Es beginnt bei der Hülle. Zart, weil von David Chipperfield unbunt auf die Hafenmole gesetzt, markiert es mit seinen schlichten Sheddächern einen unaufgeregten und doch eigenständigen Ort.
Im Innern erwartet die Interessierten eine grosszügige, aufs Meer ausgerichtete Lobby, die sofort klar macht, wohin der Weg weitergeht.
Nämlich zum ersten Stock. Und da lernt man das ganz spezifische Konzept des Museums kennen. Das Haus zeigt eine periodisch wechselnde Sammlung von Werken William Turners aus den umfangreichen Beständen von Tate Britain - also keinen Turner-Kanon, sondern jeweils eine Auswahl, die Bekanntes mit Kuriosem mischt. Verantwortlich für diese Auswahl ist jeweils ein/e Kunstschaffende/r, welche/r die übrigen Räume des Museums mit eigener, zeitgenössischer Kunst bespielt. Diese Arbeiten nehmen direkt oder indirekt Bezug auf die Turner-Werke. Es wird also eine permanenter Dialog zwischen Turner und aktuellen Positionen installiert. In unserem Fall war das der britisch-ghanaische Künstler Larry Achiampong, dessen Präsentation den Film "Wayfinder" - die Reise eines jungen Mädchens durch England - zum Zentrum hatte und Turners Verhältnis zur kolonialen Vergangenheit Grossbritanniens mit dem aktuellen Diskurs rund um PoC kurzschloss.
Das, meine ich, ist die Art und Weise, wie Kunst und Kunstgeschichte vermittelt werden sollen. Kontextuell, verankert, befragend, den Blick erfrischend und erweiternd.
Seit einem knappen Monat herrscht Krieg in Europa. Seine Dauer ist nicht einschätzbar, weil die Russen in der Ukraine auf tatkräftigen Widerstand stossen. Sicher ist, dass die Folgen dieser Vorgänge weitreichend sein werden.
Politik: Es etabliert sich die sich schon länger entwickelnde Zweiteilung der Welt in demokratische und autokratische Staaten. Das vor 30 Jahren diskutierte "Ende der Geschichte" erweist sich als Irrglaube. Russland hat Schritt für Schritt zum Blockdenken à la Sowjetunion zurückgefunden. Dummerweise ist der autokratische Staat China wirtschaftlich erfolgreich, was die die viel gelobte Kombination von Demokratie und freier Marktwirtschaft mindestens fragwürdig aussehen lässt. Und autokratische Tendenzen in Demokratien, wie wir sie während der letzten US-Präsidentschaft gesehen haben, werden von diktatorisch geführten Staaten herzlich willkommen geheissen.
Umwelt: Der plötzliche Wille der westlichen Länder, unabhängig vom russichen Gas und Öl zu werden, führt zu umweltpolitischen Entscheiden, die noch anfangs dieses Jahres undenkbar gewesen wären. Zum Beispiel verschiebt Belgien seinen schon lange beschlossenen Ausstieg aus der Atomkraft um zehn Jahre. Dies passt zum Tabubruch, den die EU bereits vor dem Ukraine-Krieg begangen hat, indem sie die atomare Stromerzeugung zu einer nachhaltigen Energie erklärt hat, weil sie das Klima nicht belastet. Noch ist die naheliegendste Schlussfolgerung aus dem sich abzeichnenden Mangel an importierten Energieträgern viel zu wenig zu hören: es müssen jetzt mit allen aufbietbaren Kräften die erneuerbaren Energien gefördert werden - um der fatalen Abhängigkeit von Schurkenstaaten zu entgehen und - endlich - wirksame Schritte auf dem Weg zum Erreichen der Klimaziele zu machen.
Kultur: Die alte Aufgabe der Kulturschaffenden, Widerstand zu leisten, Fragen zu stellen, gesellschaftliche Entwicklungen zu kommentieren, mit Utopien gegen verfahrene gesellschaftliche Zustände vorzugehen, rückt wieder ins Zentrum. Wahrnehmungsschulung ist fein, aber wenn der Lack der Zivilisation abgeht, müssen Künstler, Musikerinnen, Theaterleute und Filmschaffende sich wieder lauter und heftiger äussern. Es lösen sich gerade scheinbare Selbstverständlichkeiten auf: dass wir alle politischen Schwierigkeiten auf dem Weg von Verhandlungen lösen können, dass die besten Argumente zählen, dass so etwas Rohes wie ein kriegerischer Angriff eines europäischen Landes gegen ein anderes Land Geschichte ist. - Nicht nur Kulturschaffende, aber diese besonders, sind erneut herausgefordert, das Projekt Aufklärung aufs Tapet zu bringen: Menschenrechte, Freiheit, Selbstbestimmung...
Im Kriegsgebiet selber gehts aktuell ums nackte Überleben. Unter den zahllosen Bildern bleibt mir jenes eines Filmemachers in Kiew haften: er hat seine Kamera gegen ein Maschinengewehr eingetauscht.
Loslassen, geniessen, schauen, was so kommt - das ist die aktuelle Gefühlslage. Die grosse Vernissage liegt eine Woche zurück, es kamen viele Menschen - Freunde, Bekannte, Nachbarn, Unbekannte. Ich war unablässig im Gespräch, diskutierte, lauschte, erklärte, verkaufte... eine grosse Freude. Nun dauert die Ausstellung noch zwei Wochen und es nimmt mich wunder, was in dieser Zeit noch geschieht, wer vorbeischaut, was für Reaktionen ich erlebe...
Ich blättere im Kathmandu-Buch und blicke vorwärts und zurück. Auch wenn nicht wenige neue oder liegen gebliebene Aufgaben um mich herum sind - das Jahr hat sich erfüllt. Und ich empfinde eine gewisse Leere, aber eine angenehme, eine, die Freiraum schafft für neue Schritte in neue Richtungen.
Loslassen, geniessen, schauen, was so kommt - das ist die aktuelle Gefühlslage. Die grosse Vernissage liegt eine Woche zurück, es kamen viele Menschen - Freunde, Bekannte, Nachbarn, Unbekannte. Ich war unablässig im Gespräch, diskutierte, lauschte, erklärte, verkaufte... eine grosse Freude. Nun dauert die Ausstellung noch zwei Wochen und es nimmt mich wunder, was in dieser Zeit noch geschieht, wer vorbeischaut, was für Reaktionen ich erlebe...
Ich blättere im Kathmandu-Buch und blicke vorwärts und zurück. Auch wenn nicht wenige neue oder liegen gebliebene Aufgaben um mich herum sind - das Jahr hat sich erfüllt. Und ich empfinde eine gewisse Leere, aber eine angenehme, eine, die Freiraum schafft für neue Schritte in neue Richtungen.
Ereignisse von innen und von aussen bedrohen die Menschheit: eine Pandemie (Corona aktuell in der Delta-Mutation) und die Klimaerwärmung, die immer deutlichere Folgen zeigt - zurzeit in Form von Starkregen und Überschwemmungen. Noch bewusster wird gerade die Endlichkeit des Menschen und auch dieses Globus!
Erinnerungen an Rom, meinen Fluchtpunkt in diesem Jahr
Ich sehe den uralten Wall bei der Porta Pia vor mir, an dem unsere Unterkunft lag, Botschaftgebiet. Von da aus liess es sich gut in die Altstadt wandern, in Kurven und auch mal hinab und hinauf, bis man zum Beispiel am Kopf der Spanischen Treppe stand – dieses Jahr mit spürbar weniger Touristen. Corona-Krise - wir befinden uns seit zwei Wochen im Lockdown. Der Zahl der Infizierten und der Toten steigt täglich, Fachleute sagen, dass die "Welle" gerade bevorsteht, und niemand kann prophezeien, wie lange der Ausnahmezustand andauern wird. Ein Impfstoff scheint noch in weiter Ferne zu sein und es ist denkbar, dass Covid-19 in abgewandelter Form in der nächsten Saison wiederkehrt. Die Schweizer Wirtschaft, inklusive Schulen, ist praktisch stillgelegt, damit die Menschen zuhause bleiben und sich nicht weiter anstecken. Die Luft ist spürbar sauberer als sonst, man sieht kaum Kondensstreifen und der Dunst über Zürich ist nur noch ein leiser Schleier. Die Medien verbreiten Fakten, die nicht mehr verleugnet werden können, auch nicht von Populisten. Zu den bedrückenden Meldungen kontrastieren meine Aktivitäten. Ich lese mehr als sonst: tagsüber verschiedenste Artikel zum Ausnahmezustand, nachts Literatur, aktuell Javier Marias, diesen Seelenforscher, der das Denken und Fantasieren seiner Figuren bis in die kleinsten Regungen aufblättert. Dazu kommen schnelle Waldläufe und pulstreibende Velofahrten, zum Einkaufen von Lebensmitteln. Konsum ist nur aufs Nötigste beschränkt, Ladengestelle mit anderen Gütern sind abgeklebt, Bargeld bleibt im Portemonnaie, weil niemand es mehr entgegennimmt. Als Künstler erschaffe ich gerade eine Lockdown-Arbeit, „Strich für Strich“, eine Tage-Zeichnung, an der ich jeden Morgen weitermache, mit variabler Dauer. Bei allem Respekt vor dem Virus, ich kann dem Umstand, dass eine Gesellschaft auf sich selber zurückgeworfen ist, auch einiges abgewinnen. Gefragt sind nun geistige Reisen, die Auseinandersetzung mit den eigenen Gedanken und Gefühlen, seinen Nächsten und Nachbarn. Man kann nicht mehr fliehen, sondern nur im kleinen Radius seine nähere Umgebung erkunden. Die Idee, dass ein Quadratmeter Waldboden so viel Interessantes bereithält wie ein ganzes fremdes Land, ist plötzlich nicht mehr ein nettes Bonmot. Es gilt, sich aufs Unerwartete einzulassen, da sich die Lage ständig ändert. Meine Losung, der ich im Atelierstipendium in Maloja nachlebte, "Breaking the rules", wird uns nun von aussen diktiert. Damit müssen wir und können wir umgehen. Manchmal denke ich an die aufgeräumte Stimmung in den Monaten Januar und Februar zurück. Erinnerungen an wunderbare Restaurant-Essen, an Badevergnügen in den allerersten, noch nebligen Tagen des Jahres, an ein betörendes Konzert im Zürcher Mascotte von Lola Marsh werden wach. Sie wirken bizarr, weil aus heutiger Sicht nicht mehr nur unalltäglich, sondern exquisit. Zu diesen Erfahrungen des Bruchs zählt auch ein verführerisch schöner, sonnendurchfluteter Frühling, dessen Natur uns eine ewige Wiederkehr vorgaukelt. Es ist trocken, das heisst, immerhin, dass uns die Klimaerwärmung weiter beschäftigen wird.
Biennale Florenz, internationale Ausstellung für zeitgenössische Kunst: Es ist eine rauschende Mischung, die hier zusammenkommt. Alle Medien sind vertreten, das klare Schwergewicht bildet die Malerei. Kunstschaffende aus rund 70 Ländern zeigen ihre Arbeiten. Den stilvollen Rahmen gibt die Fortezza di Basso, die innerhalb ihrer dicken Mauern elegante, leichte Messegebäude beherbergt. Das Quartier, in dem ich lebe, ist sehr ruhig. Es gibt hier kaum Verkehrslärm, ausser ab und zu ein über den Kopf donnerndes Flugzeug. Umso mehr hört man die Geräusche der Bewohner, ein Klopfen von Handwerksarbeiten, Bollywood-Musik aus einem Nachbarhaus, jemanden, der durch unser Strässlein geht und rufend etwas feilbietet, das Prasseln von Wasser auf eine Blechdecke, wenn der Dachtank gefüllt wird, ein Summen, das nach Air Condition tönt, lautstarkes Diskutieren und natürlich die Hunde. Wenn einer zu bellen anfängt, antworten andere und so geht ein Bellen von Grundstück zu Grundstück, das sich vielleicht auf ganz Kathmandu ausbreitet.
Die Berge, die ganz grossen, bleiben bisher ein Versprechen. Wir sind ja hier bereits auf 1400 Metern und rund um die Stadt waren heute bei einigermassen klarem Wetter die Hügelketten zu sehen, welche Kathmandu wie ein Kranz einrahmen. Aber dahinter ist Dunst und hinter diesem Dunst sollen von Zeit zu Zeit die Achttausender aufscheinen. Hauptgrund für die Seltenheit des Ereignisses ist der Smog. Dieser führt dazu, dass ein grosser Teil der Passanten in den Strassen Gesichtsmasken trägt. Zum Smog kommt der Staub. Viele Strassen befinden sich im Bau und präsentieren sich als grosse Staubpisten. Mitunter ist das Bild, das sich einem bietet, ganz braun. Und braunbedeckt ist auch alles, was in den Strassen verkauft wird.
Als Balz Stöber auf dem Stadtplan sah, dass sich in der Nähe seines Standortes die Kathmandu Mall befand, hatte er den Wunsch, für einen Moment das Gewirr von Menschen, Kabeln, Motorrollern, Taxis, Blechtöpfen, Saris, Markständen, Kühen, Hunden usw. zu verlassen und in eine ihm vertrautere Welt einzutauchen. Da war aber nichts. Die Mall erwies sich als düsterer Betonbau aus den Siebzigerjahren mit wenig einladenden Läden, in denen immer eine Verkaufsperson auf Kundschaft wartete. Die Rolltreppen, die nur teilweise liefen, führten nur nach oben. Dem Lift war der Startknopf weggebrochen. Das einzig Lohnende war der Blick, der sich vom erhöhten Eingang der Mall hinaus auf die Stadt bot.
Das Zeichnen in meinem Dachatelier nimmt Fahrt auf. Ich zeichne sehr unterschiedlich, je nach Motiv und Stimmung. Ein Teil der Zeichnungen dient dem Bändigen der Bilder, ich arbeite dem Chaos der Grossstadt entgegen, indem ich Strukturen, Muster oder Verläufe festhalte, die mir begegnet sind, in einem anderen Teil lasse ich die Energie aufs Blatt fliessen, die sich vom Stadtgetriebe auf mich übertragen hat, wilde Striche füllen da die Blätter, Kreisbewegungen, heftige Punkte. Bei einer dritten Gruppe von Blättern verwandle ich gesehene Bilder in eigene Ansichten oder fantasiere gleich drauflos. Sortieren, verarbeiten, verwandeln – das ist der Impetus.
Gestern las ich in den sozialen Medien die Nachricht, dass das Dach von Notre Dame in Paris gänzlich ausgebrannt sei. Ich war schockiert – sicher zwanzig Mal habe ich diesen Kirchenraum besucht und seine feierliche Ambiance in mich aufgenommen. Auch westliche Bauwerke scheinen vor Zerstörung nicht gefeit zu sein. Hier in Nepal sind es, nach dem Erdbeben vom 25. April 2015, Hunderte von Baudenkmälern, die restauriert werden müssen. Der Zufall will es, dass ich mit dem Roman «Frank» von Richard Ford eine Lektüre dabei habe, die eine weitere Katastrophe behandelt, den Hurrican Sandy, der 2012 in New Jersey immense Schäden anrichtete.
(Auszug aus "The Kathmandu Papers", Zeichen- und Schreibprojekt)
Durch Gespräche über meine aktuelle Serie "Colorscapes" bin ich auf Martin Schusters Buch "Wie Bilder wirken" gestossen. Besonders ergiebig ist darin das Kapitel über die magische Wirkung von Bildern. Schuster legt dort dar, wie durch nonverbale Kommunikation, also zum Beispiel via Malerei, Informationen in unser Gehirn, genauer in die rechte Hirnhälfte gelangen, welche die kritischen Tore des Bewusstseins umgehen. Sie erreichen direkt Gefühle und Stimmungen und sickern in diese auf mannigfaltige Art und Weise ein. Künstlerische Kommunikation ist also zunächst ein unbewusster Vorgang, der zum Ziel hat, Betrachtende emotional zu berühren. Alles andere kommt später.
Zurzeit bin ich im Spital Zollikerberg, rausgeworfen aus dem Alltag mit einem gebrochenen Fussgelenk. Das Leben hier ist meistens sehr ruhig. Ich höre nur das Rollen eines Transportwägelchens auf dem Gang oder das Husten einer Nachbarin. Man hat Zeit für Reflexion. Selten habe ich so lange und so intensiv über künstlerische Projekte nachgedacht wie hier. Im Atelier ist das ja auch möglich, aber dort warten Arbeiten auf ihre Fortsetzung und ein Wegtauchen lässt sich nicht ohne weiteres herstellen. Ich lese Zeitungen aus, schlafe mitten am Nachmittag und gehe jeder Frage, die aufkommt, in den Weiten des Web nach. Auch lese ich Bücher fast ohne Unterbruch und blättere darin, bei Bedarf, beliebig lange zurück. Bei allem, was ich ausserhalb des Bettes machen will, muss ich herausfinden, ob es geht und wie es geht. Ich bin eingeschränkt und dennoch bewegt.
Ich komme aus der Ausstellung "Imagine 68" heraus in einen goldglänzenden Oktobertag, schaue in Richtung Globus-Provisorium und Predigerturm, bin geblendet, weit weg von 2018, denke an die Protagonisten der Bewegung, bedenke mein eigenes bisheriges Tun - wo stehe ich? Reizvoll, ja notwendig ist die Kombination von Protest und Poesie weiterhin. Allerdings müssen die Formen andere sein, in einer Welt, die den Einzelnen viel subtiler adressiert, kontrolliert und manipuliert.
In meiner Tasche suche ich einen Zeichenstift, wühle, finde ihn nicht, schaue hinein - um ihn sogleich zu erblicken.
Israel-Notizen
Negev ist auf den ersten Blick eine grosse Ödnis, aufs zweite Hinsehen eine Gegend voller unterschiedlicher Ausprägungen von Gestein und Sand - mal gebirgig, dann wieder flach, mal Tafeln, dann wieder endlose Bänderungen, mal ockerbraun, dann wieder grau und grünlich und anthrazitschwarz. In der Nähe des Mitzpe Ramon-Kraters besuchen wir Ben Gurions Grab und seine Blockhütte, den Kraftort, in fast rührendem 50er-Jahre-Mintgrün, von dem aus er die grossen Gedanken zum noch jungen Staat entwickelte. Konzert von Asaf Avidan Passion und Poesie!
"Der Ching floss am Ende eines kleinen Vorstadtgartens hinter einem Haus in Highams Park, wo ich meine ersten sechs Lebensjahre verbracht habe - ein etwas heruntergekommener Vorort im Osten Londons, zwanzig Zugminuten von Liverpool Street. In dem Garten wuchsen Goldrute und Pampasgras, daneben auch Stachelbeeren und Marigold, das meine Mutter gepflanzt hatte, ihr Lieblingsblume. Auf Spanisch heisst sie "maravilla", "Wunderblume", und steht in Mexiko für den grossen Karneval der Toten. Über den Ching, der wie der Szum ungefähr drei Meter breit war, führte eine Zugbrücke, die mein Vater für mich gebaut hatte. Jeden Samstagnachmittag, wenn er nicht ins Büro musste, gingen wir an den Fluss und liessen die senkrecht auf unserem Ufer stehende Brücke mit Hilfe von Flaschenzügen und Seilen hinunter, bis sie waagrecht auf dem anderen Ufer auflag. Dann konnten wir trockenen Fusses über den Fluss. Wie die Brücke, auf der ich nun sitze, bestand jene im Highams Park aus Holzbrettern, und man konnte zwischen ihnen ins Wasser sehen - jene über den Ching war bloss etwas schmaler, gerade so breit, wie meine ausgestreckten Arme als Fünfjähriger reichten. Die Brücke führte nirgendwohin. Auf dem Ufer gegenüber befand sich eine Schrebergartensiedlung, von einem Zaun umgeben. Wir gingen nur hinüber, um auf dem anderen Ufer zu sein und zurückzuschauen."
(Aus: John Berger. Hier, wo wir uns begegnen. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2009.)
Jetzt ein Bild finden Ich dachte gerade an den kürzlich gesehenen Film "Beuys" von Andres Veiel, der kommentarlos ein vielschichtiges Bild des rastlosen Künstler zeichnet und diesen auffällig oft und variantenreich lachend zeigt. - Da kam im Radio die Meldung, dass man aus der Kanalisation des Londoner Stadtteils Whitechapel in neun Wochen einen 250 Meter langen Fettberg entfernt habe.
Florenz, erneut. Ich verlasse die bekannten Pfade um den Dom, erkunde weiter aussen gelegene Quartiere. Vieles bleibt gleich, etwa die durchgehend steinplattenbelegten Trottoirs, anderes holt einen in ein alltägliches Leben zurück: Baustellen, Zäune, Brachen, Provisorien, Umleitungen, Hotels, die ihre guten Zeiten längst hinter sich haben, durchgehend schmutzige, graubraun beschichtete Strassenzüge. Hier, ausserhalb des Treibens, wird man auf sich zurückgeworfen, fragt sich, was diese Welt mit der eigenen zu tun hat - weil einem diese Frage kein Touristenführer beantwortet.
Falun - Schweden. Wir sind ergriffen von der Landschaft und den Bauten rund um dieses berühmte schwedische Bergwerk. Wie auf einem Filmset wirkt alles gestaltet und gleichzeitig verwittert: die grosse Grube, das Liftschachthaus, das Verwaltungsgebäude, die Berge von heraustransportierten Gesteinsbrocken, die feinen Geländer, ein Bergwerkarbeiterdenkmal, eine Aussichtsplattform usw. Da die Grube still steht, respektive nur noch ein Industriedenkmal ist, fehlen - abends, als wir da sind - die Menschen. Das macht die Szenerie noch feierlicher. Dabei war das bekannte Falun-Rot nur eine Nebenprodukt, die grossen Einnahmen erzielte das Königreich mit dem Kupfer.
Gestern war ich bei Kirchner im "Grossstadtrauschnaturidyll". Die Ausstellung im Kunsthaus Zürich zeigt anhand einer umfangreichen Reihe von Gemälden, Grafiken und Zeichnungen die entscheidenden Jahre des Künstlers in Berlin und auf der Insel Fehmarn. Der Besuch war ein Genuss, ich delektierte mich an den instinktiv stimmigen Farbklängen, am rasanten Pinselstrich und an der motivisch reichen Schaffenskraft Kirchners. Dabei vergass ich fast das emotionale Auf und Ab, das dieser in den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs durchlief. Kirchner schwankte zwischen Sturz in die Grossstadt und Rückzug an ein einsames Ufer und war doch nirgends wohl; der ausbrechende Krieg führte ihn in den Militärdienst, aus dem er morphinsüchtig wieder herauskam. - Eigenartig, wie sich eine künstlerische Produktion aus grössten Seelenregungen nach hundert Jahren in einen duftig anzusehenden Teppich von Formen und Farben wandelt. Und doch gibt es Widerhaken, sonst hätte ich den Gang ins Kunsthaus gar nicht erst gemacht. Sind es die flimmernden Zeichnungen, die Kirchner unaufhörlich fertigte und die er im Atelier in leuchtende Bilder übersetzte, oder die fast greifbaren Energieflüsse, von denen die Menschen in seinen Bildern getrieben sind? Etwas an diesem Werk bleibt frisch, modern, ausdrücklich - und hat bis heute seine Relevanz.
20 Jahre Ausstellungen - - Vor ziemlich genau zwanzig Jahren, im Juni 2007, hatte ich meine erste Einzelausstellung im Erfrischungsraum der damaligen Schule für Gestaltung in Luzern. Ich war noch im Studium, an der Höheren Fachklasse Freie Kunst, und bespielte einen ganzen Raum mit direkt aufgebrachten figürlichen Wandbildern - krude Figuren, die sich deckenhoch reihten, knäuelartig überlagert oder in insektenkleine Krakeleien zurückzogen: "hUNdert WESEN". Es war ein Paukenschlag, ein Kraftakt, mit dem ich an der Luzerner Schule ankam. Einige Hoffnungen, die mit dieser Ausstellung verbunden waren, haben sich erfüllt, zum Beispiel, dass ich mir fortan einen persönlichen Kosmos von exotisch geladenen Wesen vom Leib zeichnete. Andere blieben Ideen, etwa dass aus dieser Ausstellung eine Eigendynamik entstand, die immer neue Aufgaben an mich herantrug. Immerhin definierte ich mich mit den "Wesen" als Künstler, der seither kontinuierlich an einem Werk arbeitet, das mal obsessive, mal poetische Seelenregungen in Bilder, Zeichnungen und Texte zu verwandeln und in ein Gespräch mit der Öffentlichkeit zu bringen versucht. Die Ausstellung gab mir Identität und eine Position, von der aus ich seither kommuniziere.
Musikhören im Zeitalter von Youtube, Spotify und Co. Ich wähle ein Musikstück, das in meinem Kopf summt, und lasse mich vom Programm zum nächstverwandten treiben. Oder: ich hole Klänge aus meiner Jugend herauf - um mit Musik auf Zeitreise zu gehen und im Geist lange verlassene Lebensorte aufzusuchen. Dabei male und zeichne ich, tüftle, sinniere und weiss später, zu welcher Zeichnung oder zu welcher Bildpartie ich welche Musik gehört habe.
Es kommt auch vor, dass ein Stück nicht passt, eine falsche Schwingung erzeugt. Aber meistens kreiiert mir Musik einen Raum, dank dem ich mich ganz aufs Gestalten konzentrieren kann. Sie vertreibt für ein paar Stunden die Alltagslisten und sie mobilisiert meinen Körper, meine Augen und meine Hände.
Ein jüngst gehörter Favorit: the XX, dieser sphärisch untermalte Wechselgesang, der mich dann wiederum in die 90er-Jahre zurückführt - zu Portishead oder Massive Attack, ins Luzerner "Parterre", in die Töne meiner künstlerischen Inkubationszeit.
Wieder Farbe unterrichten: Nach längerer Pause vermittle ich in einem Designer-Modul an der ZHdK erneut Grundlagen zur Farbe. Die Arbeit ist sehr anregend, einerseits weil ich es mit einer pulsierenden Gruppe von Studierenden zu tun habe, die sehr spielerisch und gleichzeitig problemorientiert ans Thema herangehen, andererseits, weil mein Unterrichtsanspruch mich jedesmal neu entdeckte oder frisch erforschte Aspekte des Themas aufnehmen lässt.
Ich komme von einem dreiwöchigen Florenz-Aufenthalt zurück - habe das Gefühl, ich laufe immer noch weiter auf den glattpolierten, seit Jahrhunderten da liegenden Steinplatten der Innenquartiere. Die Schönheit dieser Stadt ist Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil Florenz fast das ganze Jahr von einer Überzahl von Touristen heimgesucht wird, die durch ihre schiere Masse das Stadtbild banalisieren, Segen, weil das Gesamtkunstwerk dieses Ortes, versehen mit selbstbewussten Palästen, lebensnahen Skulpturen und erhellende Fresken, bis heute fasziniert.
Dabei ist die Stadt sehr überschaubar, keine Metropole im heutigen Sinn, und sie hat auch ihre "Problemzonen", etwa das lieblose, lärmige Arno-Ufer. Aber gerade seine relative Grösse und der Imperfekt machen Florenz sympathisch. Man kennt diesen Ort einigermassen schnell und kommt schnell mit seinen menschlichen und allzu menschlichen Problemen in Kontakt, zum Beispiel auch mit dem Schmutz und Zerfall, den man antrifft, kaum hat man sich ein paar Hundert Meter vom Dom entfernt. Florenz hat sich etwas vom grossen Holzhäuserdorf bewahrt, aus dem einst sein marmornes Baptisterium wuchs.
Ich versuchte in Verbindung zu treten mit dieser staubbedeckten Augenweide - und werde es wieder tun.
Etwas von der Pracht, aber auch der Lockerheit dieser Stadt mitnehmen und zeichnend, malend, schreibend an die Gegenwart anschliessen, vielleicht den flechtenbewachsene Ockerton eines tunnelförmigen Ziegelsteins oder die nur noch erahnbare Dekoration hinter einem Baugerüst. Gegenwart aus Geschichte herauslesen.
Im Reich eines Kunstsammlers (Azoren) - Wenn man auf die Azoren reist, erwartet man keine Kunstmuseen und Galerien, und doch gibt es auch dort Menschen, die sich ihr Leben lang mit Kunst beschäftigen, beziehungsweise solche machen. Wunderbar auf einer Terrasse über blau gekräuseltem Wasser schwebend, besuchten wir das private Museum des Kunstsammlers Tomaz Borba Vieira. Der Mann war ursprünglich selber Maler, verlegte sich aber im Verlauf seines Lebens aufs Sammeln. Da gibt es präzis andeutende Zeichnungen im Geist eines Giacometti, geometrische Kunst, die ihren Vorbildern im mittleren europäischen Festland durchaus mithalten kann oder im Garten Skulpturen, die lustvolle Durchblicke oder körperliche Begegnungen ermöglichen. Man schaut und staunt und nimmt zur Kenntnis, dass die künstlerische Sprache des 20. Jahrhunderts auch hierher gefunden hat, mit der Zwischenstation Lissabon.
Zürich feiert 100 Jahre Dada - und viele grosse Kulturhäuser tragen zum Jubiläum bei. Da gibt es den "Dadaglobe reconstructed" im Kunsthaus, eine nie zustande gekommene, von Tristan Tzara konzipierte Bibel des Dadaismus, es offeriert das Landesmuseum mit "Dada Universal" einen umfassenden Blick auf die Kunstbewegung, es erweitert das Haus Konstruktiv mit "Dada anders" unsere Dadaauffassung mit dem Werk dreier wichtigen Dadaistinnen oder es wartet das Museum Rietberg mit "Dada Afrika" auf.... Wie gut dieser Dadaismus Zürich doch tat und tut! Dada ist Querdenken, Aussteigen, Grenzen sprengen, Schreien, Zerstören, Aufbauen, Improvisieren, Provozieren, Zaubern, Kostümieren, Lautmalen, Bilderschreiben - das Unerwartete. Und das, initiiert in einer Stadt, die das Fleissige, Rationale, Kühle, Massvolle, Mittelmässige und Sparsame immer in den Vordergrund stellt(e). Natürlich verdankte sich die Dada-Gründung in Zürich der Tatsache, dass ein paar Kriegsflüchtlinge 1916 hier einen Ort der relativen Freiheit fanden. Aber immerhin gewährte Zürich diesen Menschen eine Zeit lang Zuflucht und wurde so, im passiven Sinn, zur Gründungsstadt der bis heute vitalsten Bewegung der frühen Moderne. - Was wir daraus lernen? Dass ein Asylland zu einem Labor für Ideen werden kann, die weltweit für Furore sorgen, und dass sich diese Ideen noch 100 Jahre nach ihrer Zündung munter weiter verbreiten können! Tomi forever! - Ich war skeptisch, ob die durch und durch handgemachten Collagen von Tomi Ungerer, die zurzeit im Kunsthaus Zürich zu sehen sind, in der heutigen, immer trickreicheren Bilderwelt zu bestehen vermögen. Aber Ungerers Bilderwelt straft alle grafischen Computerprogramme Lügen. Mit leichter Hand und doch sehr präzis schafft der mittlerweile 85-jährige Künstler mal urkomische, dann wieder bitterböse Kompositionen, die inhaltlich so geladen sind, dass beim Betrachten alle technischen Fragen verblassen. Ungerer führt die Collage, im Geist der Dadaisten, die demnächst ebenfalls gefeiert werden, wieder auf ihre Erzählkraft zurück. Zu den unheimlich verfremdeten Räumen, Tieren, Figuren und Gegenständen kommen treffsichere Titel, die den Drall von Ungerers Arbeiten in Richtung eines grossen grotesken Gelächters verstärken.
Ich lese Hanns Josef Ortheils Roman "Lo und Lu". Da hat sich ein Schriftsteller vorgenommen, nur noch Vater von zwei Kindern in ihren ersten Jahren zu sein und macht sich nebenbei Notizen. Aus den Notizen ist ein ausgewachsenes Buch entstanden, das - immer facettenreicher - die Nähe von kindlichem und künstlerischem Verhalten sichtbar macht.
Wir sind in Mund im Wallis und bewegen uns auf den Spuren des Safran. Eindrücklich ist hier, wie ein Ort (mit klangvollem Namen) sich via ein Gewürz mit weit entfernten Weltgegenden verbindet. - Der Safran ("Crocus sativus") wurde schon zur Zeit der ersten Hochkulturen im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris gezüchtet und hat seine Ursprünge entweder im iranischen Hochland, in Afghanistan oder auch in Nordindien. Via die Griechen, Römer und Araber gelangte er im Mittelaler nach Europa. - Nun stehen wir auf einer sonnigen Terrasse hoch über Naters und atmen in einem kleinen Holzspeicher Weltduft ein.
Ich nehme an der Ausstellung art.stetten teil, einem Kunstprojekt, das die Künstler von Zürich-Altstetten mit den Quartierbewohnern zusammenbringt. Wir sind weit weg - auf Java / Indonesien. Yogyakarta, wo wir uns gerade befinden, ist nicht die pittoreske Gegenstadt zu Jakarta, welche die Reiseführer suggerieren. Sie sieht aus wie viele mittelgrosse Städte in unterentwickelten oder Schwellenländern. Viel Verkehr, viel Überlebenskampf, viel Gewucher von Buden und Läden. Dazwischen hat es aber eindrückliche Inseln wie etwa der Kraton - der Sultanspalast - oder das Wasserschloss.
Heute waren wir ausserhalb, in Prambanan. Diese hinduistische Tempelanlage von grossen Ausmassen verstrahlt die Atmosphäre eines aussergewöhnlichen Ortes... ähnlich wie Khajuraho oder Mahalibalipuram (um nur zwei vergleichbare zu nennen, die ich gesehen habe). In einer Mischung aus Topographie und Architektur ragen hier vor allem die grossen Tempel für Shiva, Vishnu und Brahma in den Himmel und beeindrucken zunächst durch ihre fast schwarze, steinerne Monumentatlität. Auf den zweiten, näheren Blick offenbaren sie eine gewaltige Erzählung von Steinmetzkunst aus dem Ramanyana-Epos. Erhebend! Gestern war Borobudur. Im Unterschied zu Prambanan wirkt diese Tempelanlage vor allem, wenn man in ihr, oder besser, auf ihr ist. Den Blick von oben herab in die noch dunstigen Dschungelwälder und Berge - zwischen unzähligen Stupas - vergisst man nicht mehr! Wir waren um sechs Uhr morgens da und erlebten ein erst sanftes, dann durch den Sonnenaufgang immer bunter werdendes Licht. In fast jeder der kleinen Stupas sitzt ein Buddha - sichtbar und doch verborgen. Paris, erneut. Ich besuche die Ausstellung "Le Corbusier - mesures de l'homme" im Centre Pompidou, die dem Architekten zum 50. Todesjahr ausgerichtet wird. Noch nie habe ich dessen Schaffen in solcher Fülle dargestellt gesehen. Es reicht von kunstgewerblichen Entwürfen und Gebäuden im Style Sapin der Frühzeit über die puristische Malerei um 1920 bis zur Gründung von "L'Esprit Nouveau". Es umfasst die klassisch-moderne Phase der 20er und 30er-Jahre und die städtebaulichen Visionen dieser Zeit. Und es zeigt Farbexperimente in verschiedene Richtungen, ein ungeahnt umfangreiches skulpturales Schaffen und die Bauten und Stadtprojekte des Spätwerks.
Das Stadtwanderungsprojekt durch Zug, das ich zusammen mit Roger Amgwerd unternehme, ist gut angelaufen. Heute waren wir zwischen der Unteraltstadt und dem forum junge kunst am Blumenweg unterwegs. Beflügelnd wirkt vor allem die Arbeit zu zweit und der Dialog, der dabei entsteht (und gleichzeitig Kern unseres Projekts ist) und die andere Art des Schaffens: wir produzieren nicht Atelierkunst, sondern Texte als Gesprächsaufzeichnungen und Fotografien zu Situationen, die wenig später im Netz erscheinen. Obwohl auch heute die Bedingungen zum Spazieren garstig waren, erlebe ich die vier Termine des Unternehmens als Inseln im Alltag: es geht um Stehenbleiben, Schauen, Warten, Kommentieren, Aufnehmen etc. - mehrheitlich unökonomische Tätigkeiten, mit denen wir uns den täglichen Traktandenlisten entziehen. Mitunter kommt ob der Entdeckungen, die wir machen, eine diebische Freude auf und ab und an schimmert Poesie auf der kalten Wintertopographie, die wir durchwandern.
Ich lese Richard Fords Roman "Kanada" zuende. Plötzlich geht alles schnell. Der Protagonist Dell verlässt seine Kindheit, in der er unfreiwillig Zeuge eines Banküberfalls und zweier Morde wurde. Er scheint auf der Highschool und im College seinen Weg gemacht zu haben. Er ist nun ein pensionierter Englischlehrer, der zurückblickt, eigentlich das ganze Buch zurückblickte. Am verstörendsten - noch verstörender als die Verbrechen - waren für mich die Gänsejagden in den Prärien Kanadas: das Anlegen von Fallen, das Abschiessen, das Ausnehmen der Tiere, die beteiligten "Sportsfreunde". Eine traurige und doch hoffnungsvolle Geschichte, die von totaler Desillusionierung und gleichzeitig Rettung durch die Kunst handelt.
Wieder in Winterthur. Diesmal in der Ausstellung "Blow up" im Fotomuseum. Die Schau seziert Antonionis grandiosen Film. Requisiten sind zu sehen. Malerei vom Regisseur. Fotografen der Londoner Sixties. Eine Epoche wird spürbar. Ich wurde im Jahr des Film geboren, 1966. Das legendäre Konzert der Yardbirds flimmert als Ausschnitt über die Leinwand. Wir sprechen über die Dokumentationskraft von Fotografien, beziehungsweise ihre Grenzen. Wie die Filmbesucher damals. Dandytum ist ein Thema. Abstrakter Expressionismus. Eine Aufbruchszeit.
73, Rue Championnet: Espace Roland Schär
Athen, Akropolismuseum - der Mut zur Lücke. In diesem vom Schweizer Bernard Tschumi gebauten und 2009 eröffneten Haus wird der Parthenonfries so ausgestellt, dass sichtbar ist, wo Bestandteile fehlen. Sie befinden sich im Britischen Museum. Athener sagen mir, dass sie das Museum nicht mehr besuchen, bis der Fries vollständig ist.
Ein Buch, ein Werk. Kürzlich hat Johanna Näf ein Buch über die letzten 30 Jahre ihres künstlerischen Schaffens veröffentlicht. Ein Rückblick, der Freude macht und optimistisch stimmt. Johanna hat relativ spät, mit rund 40 Jahren, professionell als Künstlerin zu arbeiten begonnen. Seither hat sie aber Seite um Seite einer in ihr schlummernden Bilderfolge aufgeschlagen und kontinuierlich den Dialog mit der Öffentlichkeit gesucht, indem sie nicht nur klassische Einzel- und Gruppenausstellungen bestritt, sondern regelmässig Kunst und Bau-Arbeiten realisierte. Bei Johanna erhält Kunst eine echte Relevanz: sie lädt ein zur Teilhabe an einem ständig fortschreitenden Prozess und sie nimmt, umgekehrt Teil am Veränderungsprozess des öffentlichen Raums, indem sie diesen liest und Interpretationen anbietet.
Endlich steht dieser Hafenkran. Bei einem Besuch vor Ort wirkt er auf mich erstaunlich harmlos. - Ich habe die politische Debatte, die ihm voranging, nicht verfolgt - weil sie mich anödete. Ich bin des Themas also nicht müde. Und dennoch: der Hafenkran hat weder in seiner Materialität noch in seinen Dimensionen etwas Provokatives. Sein Material, verrosteter Stahl mit einem stark nachgedunkelten roten und grünen Schutzanstrich, fügt sich harmonisch in den Kontext aus Limmatwasser, Zunfthäusern und Strassencafés, seine Dimensionen sind wenig beeindruckend, wenn ich an die zahlreichen Baukräne denke, die auch in der Zürcher Innenstadt stehen. Interessant ist, was passiert, wenn man hafenkran googelt. - Man erhält seitenweise Berichte, Diskussionsbeiträge und Bilder zu Zürich im Frühling 2014. Beste Publicity also, aber nicht etwa von Zürich Tourismus finanziert, sondern ermöglicht durch einen städtischen Skulpturwettbewerb. Spannender als der Hafenkran selbst sind die Assoziationen, die er weckt: das Meer, das nach Zürich kommt ("Freie Sicht" hatten wir schon mal), die DDR - genau das Gegenteil eines Umschlagplatzes, DADA oder die Lust am Un-Sinn... dieser Virus, der sich vor bald 100 Jahren ein paar Schritte entfernt in die Welt zu verbreiten begann.
Neulich in Winterthur. Besuch der Ausstellung "Streifen und Glas" von Gerhard Richter. Da ist einer 82 und vital wie eh und je. Wobei zum Temperament des Künstlerflüchtlings der 6oer-Jahre die technischen, beziehungsweise materiellen Möglichkeiten des Grosskünstlers der Gegenwart gekommen sind. Digital und mittels Inkjet-Print bringt Richter in seinen Strips unzählbare Farben auf die Bildfläche und agiert hier nur noch als Komponist am Bildschirm, der Aufträge für bis zu zehn Meter lange Bilder abschickt. Dazu kontrastieren seine Hinterglasbilder aus Lackfarben, die den selbstbewussten Titel "Flow" tragen und in ihrem bunten, formenreichen Schillern eine Art Parallelnatur schaffen. - Anregend blieb für uns - wie schon bei früheren Richter-Ausstellungen - die anhaltend breite Befragung des Mediums Malerei durch diesen Künstler. Richter demonstriert mit seinem Erfolg letztlich, wie wirksam das vielleicht künstlerischste aller Medien sein kann - möglicherweise gerade weil es (im Gegensatz zu anderen visuellen Formen) nie die totale Verschmelzung mit dem Alltag anstrebte.
Ich denke an die rostroten, ockerorangen oder braungelben Fassaden zurück, nicht nur an der Piazza Navona, an das oft holprige, höckrige Kopfsteinpflaster, das im nächtlichen Scheinwerferlicht der Autos glänzt, an Zeiten des Wartens auf einen Bus, der vielleicht nie kam und die Nacht immer schwärzer werden liess.
Ich rieche den leichten Geruch von Salzluft, der bei bestimmten Wetterlagen aufkam und Lust weckte, nach Ostia zu fahren… was wir einmal auch taten und was uns eine Vorstadt zeigte, die im Vergleich zu Rom seltsam unspektakulär wirkte. Wobei dann der Strand doch wieder aufmerken liess – mit seinen ellenlangen, halb modernen, halb neoklassizistischen, mitunter bröckelnden Erschliessungsgebäuden.
Ich verliere mich im verschwenderischen Parco Borghese, wo man von einem Wiesengrund mit Pinienzapfen und Hundeschule zum Aussichtspunkt des Pincio gelangen kann, der einen durch seinen Ausblick auf die heisse, weite Metropole den Atem verschlägt.
Ich vergegenwärtige die antiken Ruinen, die an unzähligen Orten wie Dinosaurier aus dem Stadtbogen ragen und mit ihren Millionen geschichteter Ziegelsteine ungezählte Geschichten erzählen.
Interessant ist, wie schon in Nepal, der universale Charakter von Themen, der im künstlerischen Austausch greifbar wird. So verstand ich genau, was eine iranische Künstlerin meinte, wenn sie vom Glück des immer weiteren Wegnehmens von bunter Fläche in einem Gemälde berichtete.
Das Galadinner am vorletzten Abend war familiär und babylonisch zugleich, man sass und ass zusammen, tauschte persönliche Gedanken aus, feierte das Fest der Kunst und wusste genau, dass jeder gegenseitige Webdatentransfer nur ein Kräuseln innerhalb eines unabsehbaren, weltumspannenden Meeres von Bildern, Zeichnungen und Plastiken ist.
Eine besondere Bedeutung hat Florenz als Kontext des Anlasses. Die Stadt mit ihrem Hang zur Bellezza fordert geradezu dazu heraus, das Gebrochene, Disharmonische und auch das Reduzierte zu zeigen. Nicht weit von der Schweiz entfernt, finde ich mich hier in einem spürbar anderen Koordinatensystem wieder.
Tel Aviv - Frühlingshügel - Rothschild Avenue: Wir wandern auf dem grünen Mittelstreifen. Heimfahrende Angestellte flitzen in Scharen auf ihren elektrischen Street Bikes hinauf und hinunter. Rechts und links reiht sich das mediterrane Vermächtnis des Bauhauses. Arg verwittert oder blankweiss herausgeputzt, maschinenartig kühl oder prätentiös brutal fügen sich die Gebäude hinter üppig gewachsenen Bäumen zu einem grossen Film, zum lebendig gebliebenen Moderne-Traum.
Die heilige Stadt, Jerusalem, wirkt im Vergleich zu Tel Aviv sehr behäbig, mitunter trutzig. Viele Gebäude sind aus dem hellen, aber massiv eingesetzten Meleke, dem Kalkstein gebaut, der hier in der Gegend seit Herodes Zeiten verwendet wird. Dabei überrascht die Einwohnerzahl von fast 800'000 Menschen. Da die Stadt sich über zahlreiche Hügel ausbreitet, wirkt sie nicht grossstädtisch. Erstaunlich lebendig geblieben ist die Altstadt. Trotz der Massen von Touristen und Pilgern, die sie täglich überschwemmen, sieht vieles unaufgeräumt und wirklich bewohnt aus.
Das Tote Meer hat etwas Unwirkliches, schon weil man 400 Meter unter Meereshöhe fährt, um es zu erreichen. Einmal angekommen, sehen wir ein Flimmern über türkisgrünem Wasser, das nur vage das andere, jordanische Ufer erkennen lässt. Im Wasser dann der erstaunliche Auftrieb und ein Brennen an verletzten Körperstellen. Überall Spas und Salzgewinnungswerke. An gewissen Uferstellen ist das krasse Absinken des Wasserspiegels sichtbar. Bizarre Säulen aus Sand und Salz ragen da in den Himmel. Dann wieder Idylle, wo es Süsswasser gibt, Gärten Eden, wie sie in der Bibel beschrieben sind. - Als wir den weiten Talgrund verlassen, spüren wir immer noch den heissen Atem eines einmaligen Ortes auf der Haut.
Eigenartige Erfahrungen in Safed. Das Städtchen im Norden des Landes wirkt beim Heranfahren ärmlich, weil leicht verlottert. Macht man sich aber die Mühe, in den historischen Kern hinein- , beziehungsweise hinaufzusteigen, entdeckt man zahlreiche Galerien und darüber liegende Ateliers. An einer kleinen Snackbar verzehren wir köstliche Falafel. In den Gassen sehen wir mehrheitlich orthodoxe Juden, deren Äusseres im Kontext einer Künstlerkolonie eine für uns neue Bedeutung erhält.
Akko, am Ende der Reise, wirkt wie eine Szenerie aus Tausendundeinenacht. Ich wähne mich hier eher in Marokko als in Israel. Es gibt eine Medina, den Bazar, verschiedene Moscheen, arabische Händler, fussballspielende Jungs in bröckelnden Hinterhöfen... Dabei ist alles gut organisiert. Die Altstadt ist vorwiegend von israelischen Arabern bewohnt, die Neustadt von Juden. Vielleicht ein Ort, der zeigt, wie das Zusammenleben der beiden Kulturen funktionieren könnte.
Das Kaufleuten in Zürich war an diesem kühlnassen Abend gut gefüllt. Um uns standen Menschen mittleren Alters, die sich von Zeit zu Zeit an der Bar ein Bier holten oder sich locker durch den Raum nach vorne tasteten. Dann kam er, mit leichter Verspätung, der israelische Musiker Asaf Avidan - und entschuldigte sich schon nach dem ersten Stück für seine lädierte Stimme. Weil diese so viele Lagen, auch aufgekratzte, kennt, war dies kaum aufgefallen. Avidan spielte zunächst ein Set mit akustischen Gitarren, zu denen er im schlichten Stil eines Show Case sang. Sogleich wurden sein stupendes Beherrschen des Instruments und sein oft hoher, ausdrucksstarker Gesang hörbar. Irgendwann kam "The Reckoning Song", der von Rhythmuswechseln und einem verführerischen An- und Abschwellen lebt - der ganze Saal sang und schrie mit. Danach wechselte das reduzierte, aber präzis eingesetzte LED-Licht sein Spektrum und Avidan ging zu einer Phase mit elektrischer Gitarre und Bodengeräten über. Plätscherte sein Sound anfänglich noch metallisch dahin, mutierte er mit der Zeit dank Repetition, Verzerrung, Überlagerung usw. zu einem wilden, scheinbar unkontrollierbaren Strudel, der sich um Wohlklang keinen Deut mehr kümmerte. Avidan führte seine Gitarrenkurven, die er mit mächtigen Rhythmen unterlegte, auf ein ebenso unabsehbares, expressives und experimentelles Feld wie seine Stimme. Die Interaktion mit dem Publikum durch launige Ansagen wurde dichter, der Abend fülliger und üppiger - bis der Musiker die schwere Instrumentalwolke platzen liess und zu seinem einfachen, eindringlichen Akustik-Gesang zurückkehrte. Ein Konzert voller Zartheit, Neugier, Fantasie, Farbe, Ausdruck, Witz und Wildnis - grosse, grossartig performte Musik!
Wandernde Augen
Momente des Einsseins
Ein Heraufschreiten des Wilden
Spuren
Dann wieder Feines
Notwendiges
Den Tisch räumen
Pinsel waschen
Werke wachsen lassen
Eine Wiese
Oder eher ein Dschungel?
Farbe an Händen
Nochmals: der Begriff Freiheit
Das Richtige tun
Das Wichtige?
Pflichten abgeschüttelt
Erfüllt
Erleben
Was ist wahr?
Allein, doch nicht melancholisch
Meistens zu wenig Zeit
Dehnen
Durstrecken aushalten
Dann wieder ein Schub
Plötzlich fügen sich Strich und Fläche
In der Nähe sein.
Mindestens so interessant wie die gezeigten Arbeiten ist die Architektur der reformierten Kirche, in der die Ausstellung stattfindet. Es ist ein Repräsentationsbau der Schweizer Kriegszeit, wie er typischer und gleichzeitig feinsinniger nicht sein könnte. Sein Architekt, Werner Max Moser, zeigt anhand vieler grosszügiger, kahler Flächen, aber auch an betonten Konstruktionselementen seine Verbundenheit mit der Moderne. Gleichzeitig differenziert er dieses Bild mit vielen organisch gestalteten Details wie Lampen, Geländern, Treppenläufen und erreicht damit eine Balance zwischen Radikalität und Subtilität, die selten ist.
Bei aller Widersprüchlichkeit, welche die Ausstellung sichtbar macht, beeindruckt der umfassende gestalterische Anspruch, den dieser Künstler an den Tag gelegt hat. Er sah sich nicht als Spezialist, sondern als Wanderer zwischen verschiedensten Gebieten. Er war Denker und Schaffer, Visionär und Realist. Auf Le Corbusiers tiefe Verankerung in der europäischen Geistesgeschichte weist die These der Ausstellung hin, nach der die Orientierung am menschlichen Mass alle seine Arbeiten zusammengehalten hat.
meine Ausstellung
zahlreiche Besucher an der Vernissage
Gespräche über Malerei, Paris als Kunststadt, Zürich
in der Nähe eine Schule, Kinderstimmen
18. Arrondissement, ein durchmischtes Quartier
ich lese in Dürrenmatts Stoffen - "Winterkrieg..."
Métro Porte de Clignancourt und Simplon